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Architekturbiennale Venedig 2016

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Architekturbiennale Venedig 2016

«Reporting from the front» 

Eine Frau läuft über ein leeres Feld, Steinbrocken liegen auf dem Boden. Sie steigt auf eine Leiter und betrachtet die weitläufige Landschaft. Erst von oben erkennt sie die Anordnung der Steine, die plötzlich einen Sinn ergeben.

Mit diesem Bild führt uns der chilenische Architekt und künstlerische Leiter, Alejandro Aravena, an die Architekturbiennale in Venedig heran. Die Welt braucht neue Vorbilder, der soziale Umbau ist unumgänglich. Mit «Reporting from the front» richtet die beeindruckende Architektur-Kunstschau den Fokus auf die grossen und kleinen Schauplätze dieser Welt und erklärt, was uns alle so dringlich angeht.

Die Welt im Umbau

Zum Auftakt warten hundert Tonnen Restmaterial aus der letztjährigen Biennale auf die Besucher. Wumm! 14 km Metallstangen und 10 0000 m2 Gipskarton; Willkommen in unserer Abfallgesellschaft! Beeindruckt von der Masse verschwinde ich unter dem glänzenden Metallstangenhimmel. An den weissen Gipsplattenwänden hängen blaue iPads wie leuchtende Augen. Darauf entdeckt man den Maestro himself mit zerzausten Haaren und wedelnden Plänen. Wer an dieser Biennale ausstellt, hat sich im Vorfeld vertieft mit den anstehenden Problemen unserer Zeit auseinandergesetzt. Dafür bin ich den grossen Baumeistern schon mal dankbar.

Ressourcenverteilung, Megacities, Flüchtlingsströme, Abfallentsorgung, Klimaveränderung. Unendlich viele Fragen hängen in der Luft. Mehr als sechzig Nationen haben sich Gedanken dazu gemacht und kreative Umsetzungsideen nach Venedig gebracht. Ausgerechnet in diese fragile Stadt, wo das Tourismusmonster durch die engen Gässchen drängt und Stück für Stück verschlingt. Die Probleme beginnen bereits vor der Haustüre, wird man da durchlässiger?

Ansatz

Die Bandbreite ist komplex, so dass selbst eine Woche «Biennale – Intensiv» nicht ausreichen würde, alles zu verstehen. Die Botschaft kommt an, ich spüre die Dringlichkeit, mich darauf einzulassen. Im Fluss der Ausstellung öffne ich all meine Sinne, lasse mich berühren und entdecke mutmachende, hoffnungsvolle Ideen. Es braucht eine Neuorganisation der Dinge. Vorwärts! Die Probleme dulden keinen Aufschub.

Städteplaner und Architekten suchen verzweifelt nach neuen Lösungen. Müssen sie auch! Denn: Was passiert, wenn überhöhte Quadratmeterpreise unsere Monatslöhne auffressen, die Luft zum Atmen zu dünn wird, der Abfallberg uns erdrückt? Angesichts der düsteren Aktualität bleiben die Besucher nachdenklich stehen, verwickeln sich in Gespräche. Warum bewegt uns diese Ausstellung so sehr? Für eine gangbare Zukunft müssen wir in punkto Empathie noch kräftig zulegen. Es geht uns alle an. Wegschauen gibt’s nicht mehr, es macht uns krank und taub. Das geht unter die Haut.

In einem eindrücklichen Film über Kumbh Mela, dem grössten religiösen Fest der Menschheit, ziehen Bilder aus Indien vorüber. Ein gigantisches Menschenmeer in ständiger Bewegung. 70 Millionen Menschen verrichten rituelle Handlungen, schlafen, essen, auf 20 km2. Wie löst man das?

Ein futuristisch blauleuchtendes Ei in der Haupthalle zieht viel Aufmerksamkeit auf sich. Russlands Vision von der neuen Welt nennt sich MATREX. Aussen klare geometrische Formen als Pyramide, im Innern schützend, die weichgeformte Babuschka; Moderne und Tradition, Arbeitsraum und öffentliche Arena in einem. Geht diese Rechnung so einfach auf?

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Perspektivenwechsel

Ich steige über Abfallberge, wäge Maschinen- gegen Handarbeit ab, rechne heutiges Wohnverhalten in aktuelle Quadratmeterpreise um und wandere imaginär von Ost nach West. No-mans-land dazwischen. Korea zeigt verdichtetes Bauen in leuchtendem Rot. Wie bei einem Tangram fügen sich die Bauteile ineinander. Im deutschen Pavillon wurden die Mauern symbolisch aufgebrochene, in Spanien schaut man durch leere Bilderrahmen ins unfertige Land.

Trotz der schier unlösbaren Probleme hinterlässt diese Ausstellung nicht das übliche Gefühl von Ohnmacht. Im Gegenteil. Schon zum zweiten mal in diesem Jahr durchdringt mich die Erkenntnis, dass Empathie, gesunder Menschenverstand und ein aktiver Ansatz im direktesten Umfeld viel mehr bewirken, als grosse Pläne. Der Film «tomorrow» hat bei mir die gleiche Betroffenheit ausgelöst. Es geht auch ohne erhobenen Zeigefinger! Ich trage die Eindrücke in meinem Herzen nach Hause. Einzelne Lichtblicke, wie die magische Lichtinstallation «lightscapes» bleiben hängen wie besondere Perlen an einer Schnur.

Zum ersten Mal spüre ich was Nachhaltigkeit mit mir macht. So sehr, dass ich nochmals hingefahren bin, um in Ruhe über den Perspektivenwechsel nachzudenken. Die Menschen müssen Teil der Lösung werden. Der Schlüssel liegt in unserer Hand.

Francis en route

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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